Anmerkung

Königin Victoria und die Zeit der Romantik

Kein anderer britischer Monarch hat so lange regiert wie Königin Victoria. Ihr Einfluss auf Leben und Kultur des 19. Jahrhunderts kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Während ihrer langen Regentschaft (1837‑1901) förderte sie viele Komponisten und Musiker, mit denen sie oft auch befreundet war. Außerdem versorgte sie die meisten europäischen Königshäuser mit Bräuten und Bräutigamen aus ihrer neunköpfigen Kinderschar. Nicht zu Unrecht gilt sie daher als „Großmutter Europas“. Wie es in Großbritannien üblich ist, wurde eine geschichtliche Epoche nach ihr benannt, eine Epoche, die ein großes und vielfältiges Repertoire an großartiger Chormusik aufbietet. Die Zeit der Romantik in Europa (Victorias Regierungszeit) war eine Zeit der dramatischen Formen, der üppigen Harmonien, eine Zeit des Experimentierens und der Erneuerung. In der Tat sind einige der Stücke in diesem Konzert alles andere als britisch, doch Victorias Einfluss in Europa war eben sehr weitreichend.

Wir eröffnen den heutigen Konzertabend mit einem Prozessionslied, dem Volkslied „I Wonder as I Wander“ (Ich wundere mich beim Wandern), das der amerikanische Komponist John Jacob Niles arrangiert hat. Schon als Teenager begann Niles, Volkslieder aufzuschreiben, er beschäftigte sich intensiv mit der Volksmusik der Appalachen und transkribierte traditionelle Weisen aus mündlichen Quellen. Später setzte er seine musikalischen Studien in Frankreich und am Konservatorium von Cinncinnati fort. Er sang in der Oper und in den ersten Radiosendungen und er gab Konzerte in ganz Europa und in den USA. Wie der Engländer Ralph Vaughan Williams, der später in unserem Programm zu hören sein wird, sammelte und bewahrte er einen wesentlichen Teil des volksmusikalischen Erbes seines Landes, das ansonsten heute vermutlich verloren wäre.

Vielleicht wundern Sie sich darüber, dass wir in einem viktorianischen und damit ziemlich britischen Konzert ein Stück von Felix Mendelssohn aufführen – und noch dazu in Englisch, wo wir doch üblicherweise alle Werke, die wir aufführen, in der Originalsprache singen. Bei dem Stück handelt es sich um „When Jesus our Lord“, (Als Jesus, unser Herr) einen Satz aus Mendelssohns unvollendetem Oratorium Christus. Victorias Prinzgemahl, Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, war Deutscher. Ihm verdanken die Briten die Einführung des schönen Brauchs, an Weihnachten einen Baum zu schmücken, der sich mittlerweile über die ganze Welt verbreitet hat. Mendelssohn war eng mit dem königlichen Paar befreundet, besonders mit Albert, und hielt sich ziemlich oft in England auf. Seine Werke wurden dort zu seinen Lebzeiten in englischen Übersetzungen aufgeführt (die hoffentlich von ihm geprüft wurden); diese Fassungen gelten in der englischsprachigen Welt inzwischen als ebenso authentisch wie die originalen deutschen.

Mendelssohn genoss in England immer einen hervorragenden Ruf. Die Begeisterung, die Königin Victoria für seine Musik hegte, zeigt sich darin, dass sie beim Wiederaufbau des Crystal Palace im Jahr 1854 verlangte, darin eine Mendelssohn-Statue aufzustellen. Sein „Hochzeitsmarsch“ aus „Ein Sommernachtstraum“ wurde 1858 bei der Hochzeit von Victorias Tochter mit dem Kronprinzen Friedrich von Preußen gespielt und ist auch heute noch bei vielen Hochzeitsfeiern zu hören. Seine sakrale Chormusik hat in der Chormusiktradition der Anglikanischen Kirche nichts von ihrer Beliebtheit verloren.  

Vor dem 19. Jahrhundert schätzte man in Europa nur zeitgenössische Kunst und die Werke, die von Komponisten vergangener Zeiten geschaffen worden waren, galten als altmodisch und wurden selten gespielt. Mendelssohn stand mitten im neu erwachten Interesse an der Musik vergangener Jahrhunderte, vor allem an der Musik von Johann Sebastian Bach und seiner Familie, im viktorianischen England; aus diesem Grund präsentieren wir heute abend zwei Weihnachtschoräle von J. S. Bach „O Jesulein süß“ und „Ach mein herzliebes Jesulein“. Im viktorianischen England gab es auch ein neues Interesse an der Kultur des Mittelalters. Aus der Hochzeit dieser Epoche stammt das elisabethanische Stück „O Lord, in thee is all my trust“ (O Herr, in Dir ist mein Vertrauen) von Thomas Tallis.

Jeanne Conard und Michael Jones